Israel und Palästina: Ein Konflikt und viele Facetten von Falsch

Es heißt ja, wenn du nicht weißt, wie du einen Text anfangen sollst, sei einfach ehrlich. Als ob das immer so einfach wäre. Gut, dann bin ich jetzt ehrlich: Dieser Text ist einer der Schwersten, die ich bisher je schreiben musste, vielleicht sogar der Schwerste überhaupt. Weil ich so viel sagen will und nicht weiß, wie, weil ich das Gefühl habe, mich an den ganzen Emotionen zu verschlucken und weil Worte eh nur pathetisch klingen würde. Weil Worte halt eben manchmal zu schwach sind, um Dinge zu beschreiben.

 

Hinzu kommt, ich kann mit diesem Text eigentlich nur verlieren. Egal, was ich sage, ich werde jemandem auf die Füße treten, weil es einfach in dieser Geschichte zu viele Meinungen, Ansichten, persönliche Vorteile und Nachteile gibt, die alle zu beachten einfach nicht möglich ist.

 

Jaffa

Jaffa

Fangen wir mit den Fakten an. Ich war im Dezember 2017 in Israel, mit dem Plan, mir Israel, Westbank und, sollte es die Zeit erlauben, auch Jordanien anzusehen. Als ich diesen Entschluss gefasst habe, konnte ich noch nicht ahnen, dass ich dort zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt hinreisen würde, denn nur wenige Tage vor meinem Abflug äußerte Präsident Trump die Absicht, die Botschaft seines Landes von dem politischen wenig brisanten Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, obwohl ihm die internationale Gemeinschaft mehrfach nachdrücklich davon abgeraten hatte…

 

Trotzdem (ich persönlich glaube ja, eher genau deswegen) tat dieser Politiker es aber doch und plötzlich stand die Welt wieder Kopf. Zumindest in den Medien, zu denen ich Zugang hatte, was eh so ein Thema für sich ist. Da wurden Steine geworfen, es gab Auseinandersetzungen auf den Straßen und aus Gaza flogen wieder Raketen.

 

Das aber nur in den europäischen Medien. Denn wie ich gelernt habe, wenn es in europäischen Medien so aussieht, als würde in Israel die Welt untergehen, geht das Leben dort weiter, als wäre gar nichts passiert. Tatsächlich ist es auch nicht so, dass dort ganze Straßenzüge in Flammen stehen und dass der Kriegszustand ausgerufen wird, sondern stattdessen prügeln sich die rivalisierenden Gruppen, Kamera-Teams bilden die Szene ab und eine Straßenecke weiter spielen Kinder auf einer Wiese.

 

Palästina

Palästina

Das ist eh so eine grundsätzliche Sache. Es ist nämlich so gut wie nicht möglich, sich in die Thematik rund um Israel und Palästina einzuarbeiten, wenn man Wert auf neutrale Informationen legt, anstatt einem Brainwashing unterzogen zu werden. CNN und Al-Jazeera sollte man dabei schon einmal nicht fragen. Als ob man dem Brainwashing am Ende wirklich ausweichen könnte, denn wenn man sich dann wirklich im Land aufhält, wird es nur noch schlimmer, aber dazu später mehr.

 

In Israel haben Geschichten nämlich nicht nur zwei Seiten…sondern unendlich viele. Und dabei ist jede so legitim wie die nächste.

 

Tel Aviv

Es gibt nicht viele Möglichkeiten, in Israel per Flugzeug einzureisen. Es gibt Eilat im Süden, wo vornehmlich Hotel-Hochhäuser zu besichtigen sind, und es gibt Tel Aviv. Und gleich bei der Ankunft wird klar, dass dort die schweren Geschütze aufgefahren werden. (Ja, das Wortspiel ist durchaus beabsichtigt). Denn kaum hat der Besucher das Flugzeug hinter sich gelassen und geht über die Gangway, werden die menschlichen Tragödien kiloschwer auf die Besucher geladen. Da gibt es dann überlebensgroße Poster von einem weinenden Jungen mit Kippa auf dem Kopf und dazu die Aufforderung, dem Volke Israel endlich Gerechtigkeit zu gewähren. Von subtilen Andeutungen hält man hier offenbar schon mal nichts.

 

Tel Aviv

Tel Aviv

Auf dem Weg in die Stadt wird klar, so westlich Tel Aviv aussieht, so sehr ist es doch Middle East. Besonders, wenn es um den öffentlichen Nahverkehr geht. Und das lag jetzt nicht einmal daran, dass für Shabbat sowieso das ganze Land lahmgelegt wird, sondern daran, dass mal wieder irgendwas an irgendwas repariert wird und dass die Motivation vom Ersatz-Busfahrer halt bloß bis zu einer beliebigen Verkehrsinsel an einer Hauptstraße gereicht hat.

 

Im nahegelegenen Bahnhof mal eben kurz eine Auskunft einholen, ist übrigens auch nicht so einfach, denn wer hineinwill, darf erstmal das Gepäck und sich selbst scannen lassen, wobei dafür etwas Zeit mitgebracht werden sollte, denn es stehen ja schon junge Menschen in Uniform mit Maschinengewehr Schlange, die gerne vom Militärdienst fürs Wochenende nach Hause möchten.

 

Unterdessen brennt die Sonne, die Stadt ist laut und der Verkehr rauscht vorbei. Auf dem Weg weiter in die Innenstadt, Straßencafés, Stadtvillen mit vor Blumen fast überquellenden Vorgärten, Pärchen auf der Straße, Wochenendstimmung.

 

Tel Aviv

Tel Aviv

Tel Aviv könnte überall sein, in Italien, in Spanien, vielleicht auch in der Türkei. Also zumindest an einem Ort, wo meistens schönes Wetter ist und es einen Strand gibt. Denn Tel Aviv hat mit dem Rest von Israel kaum etwas zu tun, außer vielleicht, dass jeder Besucher beim Eintritt in ein Einkaufszentrum eine Taschenkontrolle über sich ergehen lassen muss und auch an großen Busstationen und Bahnhöfen Sicherheitskontrollen gemacht werden und Soldaten zum Stadtbild gehören. Ansonsten scheint Tel Aviv, geschützt unter dem Iron Dome, falls mal wieder freundliche Luftpost aus Gaza einschlagen sollte, mit seinem mediterranen Flair liberal und entspannt. Wie leicht kann man da als Besucher vergessen, dass knapp 100 Kilometer weiter Ausnahmezustand herrscht.

 

Leben in Sektoren in Hebron

„Hebron is hardcore“, so die Warnung an mich von einem Israeli, dem ich von meinen Reiseplänen erzähle. Wie hardcore es wirklich sein würde, davon hatte ich mir ja keinen Begriff gemacht.

 

 

Disclaimer meinerseits: Was die Stimme im Hintergrund als „Fireworks“ bezeichnet, hat mit Feuerwerk tatsächlich relativ wenig zu tun.

 

Kurz zur Erklärung: Hebron befindet sich im Westjordanland und wurde durch das Osloer Abkommen in zwei Sektoren geteilt, sinnhafterweise H1 und H2. In dem einen Gebiet lebt die Mehrheit der palästinischen Bevölkerung, in dem anderen die jüdisch-israelische Bevölkerung und der Zugang in den jeweils anderen Bereich der Stadt ist untersagt. Und damit auch ja keiner auf dumme Ideen kommt, gibt es dafür Checkpoints mit Drehkreuzen, Soldaten mit Maschinengewehren, die ruppig fragen, wo man hinwill, und komplett ausgestorbene und verschanzte Straßenzüge, die als Pufferzonen dienen.

 

Hebron

Hebron

„Keine Sorge, der Bus ist kugelsicher“, lautete der leicht gelangweilte Hinweis vom Busfahrer, als ich völlig entgeistert beim Einsteigen in den Bus nach Hebron auf eine Handvoll Einschusslöcher neben der Gepäckluke starre. Ich bin mir sicher, seine Aussage galt dem Zweck, mich zu beruhigen, allerdings trat der gewünschte Effekt leider nicht ein. Weil ich es eben nicht gewöhnt bin, dass ich damit rechnen muss, dass entweder auf mich oder das Fahrzeug, in dem ich mich gerade befinde, geschossen wird. Der Rest der Fahrgäste ist völlig unbeeindruckt, liest Zeitung, whatsappt oder döst.

 

In Hebron ist bei der Ankunft eines gleich einmal klar: Das hier tut sich keiner freiwillig an, der nicht muss. Wie schön wäre es doch jetzt, in Tel Aviv am Strand zu liegen. Aber anstatt Strand gibt es Beton, Mauern, Patrouillen, Absperrung und menschenleere Straßen.

 

Ich bewege mich entlang einer der breiten Straßen, die als Pufferzone dienen und sehe nichts. Keine Menschenseele. Leere Häuser, verbarrikadierte Eingänge, Spuren von Brandbomben an den Fassaden. Das Tränengas aus den für Ausländer gesperrten Zonen kratzt auch hier schon im Hals.

 

 

An den verbarrikadierten Häusern politisches Graffiti, auf den Straßen streunende Katzen und in all dem Grau aus Ruinen und Mauern ein Junge auf einem Hoverboard. Daneben ein israelischer Soldat, schwer bewaffnet, der wahrscheinlich gerade 18 Jahre alt ist und dem Hoverboard sehnsüchtig hinterherblickt, weil er selber auch gerne fahren möchte.

 

IDF-Soldat in Hebron

Wäre mein Inneres nicht schon völlig taub von allem, was ich bisher gesehen und noch nicht einmal ansatzweise verarbeitet habe, würde das Ausmaß dieser Tragödie, die so unnötig so viele Leben ruiniert hat und es immer noch tut, mir wahrscheinlich das Herz brechen.

 

Denn natürlich gehe ich nicht davon aus, dass in diesem Kind, das jemand in einem Uniform gesteckt hat, ein begeisterter, aufgeputschter Killer steckt, sondern ein Junge, der wahrscheinlich wie alle Jungen in seinem Alter auf dieser Welt nichts anderes will, als nach Hause zu fahren, seine Freundin zu küssen und mit seinen Kollegen Fußball zu spielen. Aber geht ja nicht, weil Krieg und Terror. Die Tatsache, dass er von allem, was er sehen, fühlen und erleben wird, vermutlich einen Schaden davonträgt, den er im Leben niemals wieder loswird, fällt dann vermutlich unter Kollateralschaden.

 

Check-Point 300 in Bethlehem

Jeder von euch war doch sicher schon mal an einem Flughafen, nehme ich an. Und kennt die dortigen Checkpoints. Da sitzt dann ein mehr oder weniger freundlicher Beamter, guckt wahlweise genervt oder gelangweilt hoch, wirft ein Auge auf dem Pass und nickt ab, dass man passieren darf. Die Transaktion dauert maximal 5 Sekunden. Soweit das Verständnis von Europäern von Checkpoints.

 

Bethlehem

Bethlehem

Und dann gibt es Checkpoints in Israel. In Bethlehem gibt es sogar mehrere. Einen, den üblicherweise die Touristen in ihrem Mini-Van der geführten Tagestouren benutzen und eben Checkpoint 300, den ich benutzt habe. Zusammen mit den Palästinensern. Der völlig irritierte Blick der muslimischen Busfahrerin spricht Bände, als sie mich zum dritten Mal fragt, ob ich sicher bin, dass ich dort hinmöchte. Ich bin sicher. Bis ich mit allen anderen Fahrgästen aus dem Bus auf die Straße trete und völlig fassungslos zu einem riesigen grauen Ungetüm mit Stacheldraht, Kameras und Wachtürmen hochstarre, so hoch, dass es die Nachmittagssonne verdeckt.

 

Fast kann ich die zynisch-resignierten Blicke der anderen Fahrgäste auf mir spüren, die buchstäblich zu sagen schienen: „Willkommen in unserer Welt, Kleine!“ Der Weg nach Bethlehem führt über eine Rampe, ein freies Betonfeld, durch vier Drehkreuze, zwei Pass- und Taschenkontrollen, zwei Zäune und wieder eine Rampe hinunter, jeder Schritt bewacht von Kameras und Soldaten.

 

Hat man das hinter sich gebracht, läuft man immer an der Mauer entlang bis hin zum Stadtkern zu den religiösen Sehenswürdigkeiten. So weit komme ich aber gar nicht, denn manchmal ist es eben so, dass man nur um eine Straßenecke biegen muss und plötzlich gerät die Welt aus dem Takt.

 

Rechts knapp 15 Soldaten mit Gewehren, links vielleicht 5 Palästinenser mit faustgroßen Steinen. Ich komme nicht mehr dazu, mehr zu erkennen, denn am Boden um mich herum explodieren die Tränengaspatronen und plötzlich stehe ich mitten drin in dem, was für mich und meiner wie mir nun klar wird völlig verwöhnten Weltsicht Krieg am nächsten kommt. Für mich eine Ausnahmesituation. Für die Menschen dort schlicht Alltag.

 

Proteste in Jerusalem

In Jerusalem streiten sich drei Weltreligionen, wer denn jetzt die Heilige Stadt für sich beanspruchen darf. Und das auf engstem Raum. In der Altstadt von Jerusalem liegt die Klagemauer in Sichtweite der al-Aqsa-Moschee, sodass Personen, die Streit suchen, sich hier unweigerlich auf die Füße treten können. Umgeben ist die Altstadt von einer historischen Stadtmauer mit mehreren Eingangstoren. Eines davon für die muslimische Bevölkerung, genannt Damaskus-Gate.

 

Nach dem politischen Statement von Präsident Trump demonstrieren dort an einem Freitagnachmittag, als ich mich dort aufhielt, mehrere Muslime, darunter viele junge Mädchen mit Kopftuch, singend. Man frage mich bitte nicht, was der Inhalt der Proteste war, dafür reichen meine Sprachkenntnisse leider nicht. Aber auch nonverbal war klar, dass Ärger in der Luft liegt. Geschätzt rund 90 bewaffnete Polizisten, Polizeipferde, Hunde und zahlreiche internationale Kamera-Teams. Die Situation eskaliert schließlich in einer gewaltsamen Räumung des Platzes. Ich sage dies so nüchtern, weil das folgende Video ohnehin für sich selbst spricht. Dabei nicht auszuschließen ist natürlich auch, dass besagte Protestantin willentlich übertreibt, wohl wissend, das Kameras internationaler Sender draufhalten, trotzdem sieht Deeskalation für meine Begriffe etwas anders aus.

 

 

Die Unterschiede in East-Jerusalem

Ir Amim bedeutet übersetzt City of Nations oder City of People. Diese Organisation bietet Touren an, die abseits der Standardsehenswürdigkeiten in Jerusalem das zeigen, was nicht schön anzusehen ist und auch ganz sicher keinen Spaß macht. Es geht darum, den Unterschied zwischen israelischen Siedlungen im Ostteil der Stadt und palästinensischen Siedlungen sichtbar zu machen, untermalt von der landschaftlich reizvollen Aussicht auf die Mauer, Zäune und Wachposten.

 

Das mit der Mauer ist sowieso so eine Sache. Man könnte ja glauben, wenn man sich nicht die Mühe machen will, selber etwas zu recherchieren, dass die Mauer ihren Zweck erfüllt. Schließlich fliegen mittlerweile keine Bus mehr in regelmäßigen Abständen in die Luft. Das System funktioniert. Machts dabei bei der eigenen Denke was, dass die Mauer gar nicht komplett geschlossen ist und es durchaus „Schlupflöcher“ gibt, dass die Mehrheit der Personen auf der anderen Seite der Mauer gar nichts mit den Anschlägen zu tun hatte und dass Israel in Palästina ein umfassendes Informantennetzwerk hat, um über die aktuelle Stimmung und Pläne ausreichend informiert zu sein und gegebenenfalls etwas zu verhindern? Man weiß es nicht.

 

East Jerusalem

East Jerusalem

In den israelischen Siedlungen zeichnet sich das Bild einer amerikanischen Vorstadtidylle. Saubere Straßen, nicht ein Fetzen Papier liegt herum, Parks mit Spielplätzen neben Fitnessstudios neben Cafés neben modernen Neubauten. In den palästinensischen Viertel gibt es keine Straßenlaternen, es gibt keinen Asphalt auf den Straßen, dafür aber Schlaglöcher. Parks sind weit und breit nicht zu sehen. Von Schulen und Krankenhäusern einmal ganz zu schweigen, denn von der Vielzahl der Krankenhäuser in Jerusalem liegt die Mehrzahl im Westen der Stadt, also hinter den Checkpoints und hinter der Mauer.

 

Die wahre Bedeutung von Grenzen

Vom Leben in Israel hatte ich nur eine vage Vorstellung, weil ich mich, wie jeder andere Durchschnittseuropäer auch, nicht um Grenzen schere, weil es für mich quasi keine gibt. Ich kann mich in Europa bewegen, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen, meine Nationalität hat keinen negativen Einfluss auf meine Bewegungsfreiheit und ich passiere mit einer derartigen Gleichgültigkeit Grenzen, als wären sie gar nicht da.

 

Weil die Grenzen, mit denen ich großgeworden bin, gerade einmal durch ein Schild mit dem Namen des jeweiligen Landes und den geltenden Tempolimits auf den Straßen markiert werden. In Israel bestehen Grenzen aus Mauern, Zäunen, vielen Fragen und Misstrauen.

 

Checkpoint Hebron

Checkpoint Hebron

Nicht nur zieht sich eine knapp fünf Meter hohe Mauer wie eine Narbe durch das Land, selbst in Wohnvierteln warnen übergroße Schilder israelische Staatsbürger davor, sich in diese palästinensischen Gebiete zu begeben, weil dort Gefahr für Leib und Leben droht.

 

Diese Unfreiheit betrifft sowohl Israelis als auch Palästinenser. Ein Israeli, der sein Land verlassen möchte, kann nur zwischen Flugzeug und Schiff wählen. Mal eben mit dem Auto kurz nach Ägypten rüberfahren und die Pyramiden anschauen ist nicht. Ein Palästinenser, die zum Beispiel in Hebron wohnt und seine Familie in Gaza besuchen will, reist, wenn er nicht die nötigen Papiere hat, um Israel zu durchqueren, mit dem Auto in die jordanische Hauptstadt, fliegt von dort aus nach Ägypten und passiert von dort die israelische Grenze, um nach Gaza zu gelangen, was bedenke, in dem selben Land liegt, aus dem die Person gestartet ist.

 

Hebron

Hebron

Die Trennung ist also allgegenwärtig, zumindest für denjenigen, der nicht gelernt hat, damit zu leben.

 

Und wenn es derart gelungen ist, zwei Gruppen voneinander zu trennen, dass sie beinahe keine Berührungspunkte mehr haben, ist es umso einfacher, den anderen als den Bösen hinzustellen. Sicher lässt sich der skrupellose, brutale, blutdurstige Feind leicht hinter eine Mauer skizzieren, wo er sicher eingesperrt ist, weil nicht die Möglichkeit besteht, eben kurz hinüberzugehen und selbst zu schauen, wie es dort wirklich aussieht.

 

Religion oder Streit um den cooleren imaginären Freund

Argumentiert wird in den meisten Fällen dort ohnehin mit religiösen Parolen, die mir persönlich völlig fern sind. Aus meiner Sicht, und wahrscheinlich ebenso nach dem Verständnis anderer nichtreligiöser Menschen, prügeln sich dort zwei Parteien darum, wer den cooleren imaginären Freund hat. Anders kann ich mir Argumente wie, „im Heiligen Buch XYZ steht, das ist unser Land“ nicht erklären, als „mein imaginärer Freund hat mir gesagt, das ist meins!“

 

Palästina

Palästina

Aber genau das ist es, was dort passiert. Religion wird gemischt mit Politik wird gemischt mit Emotionen, denn zweifelsohne hat auf beiden Seiten jeder eine tragische Geschichte zu erzählen. So habe ich auf israelischer Seite mit Menschen gesprochen, deren Schulfreunde während der zweiten Intifada bei einem Bombenanschlag auf einen Bus ums Leben gekommen sind und auf palästinensischer Seite traf ich eine Frau, deren Neugeborenes von einem Scharfschützen vom nächsten Häuserdach in ihrem Armen erschossen wurde.

 

Jerusalem Klagemauer und Moschee

Jerusalem Klagemauer und Moschee

Ich verstehe, dass es kaum möglich ist, eine Situation nüchtern und neutral zu bewerten, wenn man Tragödien erlebt hat, Verluste erleiden musste, frustriert ist, Unterdrückungen erlebt und Angst hat. Allerdings kann eine Fortsetzung der Situation, so wie sie jetzt ist, doch wohl keine Option sein. Außer man kämpft so lange weiter, bis auf beiden Seiten keiner mehr übrig ist. Das ist sicher eine sehr effiziente Lösung, aber nicht unbedingt eine gute.

 

Und das ist es wohl, wie sich dieser Konflikt am ehesten beschreiben lässt. Als Tragödie. Auch wenn die lokale Bevölkerung, wie mir mehrfach auf beiden Seiten versichert wurde, nicht, wie Europäer sich das vermutlich so verstellen, jede Minute ihres Lebens über den Konflikt nachdenken, so kann ich zumindest doch nicht anders.

 

Palästina

Palästina

Denn ich bin es nicht gewöhnt, damit rechnen zu müssen, dass irgendwo eine Rakete einschlägt oder jemand in meiner direkten Umgebung bei einem Messerangriff am Busbahnhof tödlich verletzt wird. Und ich will es auch gar nicht gewöhnt sein. Denn während der gesamten Reise, die mit eine der anstrengendsten war, die ich je erlebt habe, hat alles in mir rebelliert. Und das nicht nur, weil ich ein Autoritätsproblem habe und mich nicht damit vertrage, dass sich jemand besondere Rechte rausnimmt, weil er eine Uniform und eine Waffe trägt und der aus seiner Sicht richtigen Religion angehört. Sondern mein Innerstes hat sich gewehrt und hat mir selbst ins Ohr geschrien: Das hier ist falsch. FALSCH! Frustration in Großbuchstaben.

 

Wie oft wurde mir das Argument entgegengebracht, mit dem typischen „ja, aber“ als Einleitung. „Ja, aber das jüdische Volk wurde über Jahrtausende unterdrückt“. Völlig unbestreitbar richtig, aber zweimal falsch ergibt für mich trotzdem nicht richtig. Sondern einfach nur eine andere Form von falsch.

 

Viele Varianten von Falsch

Und auch, wenn ich vielleicht meine Sympathien in diesem Konflikt auf eine bestimmte Seite gelegt haben mag, so heißt das nicht, dass dies ein Anti-Israel-Text ist. Ist es nicht. Es ist ein Anti-Ungerechtigkeiten-Text. Denn in diesem Konflikt, soweit ich das beurteilen kann, gibt es nicht diese eine Figur, der man den schwarzen Peter zuschiebt. Den Bad Guy gibt es nicht. Dafür geht das Ganze schon viel zu lange, viel zu viele Parteien profitieren von dem Konflikt und es gibt eine Vielzahl von individuellen Interessen, die nicht zusammen zu bringen sind.

 

Trotzdem kann das aus meiner Sicht keine Rechtfertigung sein. Was falsch ist, bleibt falsch, selbst wenn in der Vergangenheit mal etwas Bestimmtes passiert sein mag. Unmoralisch und fragwürdig wird nicht plötzlich legitim, weil es vom eigenen Staat als notwendig dargestellt wird.

 

IDF-Soldat

IDF-Soldat

Auf beiden Seiten gibt es Propaganda. Ich weiß das, denn ich war mehr als einmal Spielball, bei dem Versuch beider Parteien, mich auf die Seite der eigenen persönlichen Wahrheit zu ziehen. Aber was noch viel wichtiger ist, auf beiden Seiten gibt es kluge und mutige Menschen, die in der Lage sind, über anerzogenes Misstrauen, Antipathien, Propaganda und Kalkül hinweg zu sehen und selber zu denken.

 

Gerade in den jüngeren Generationen auf beiden Seiten gibt es Menschen, die bereit sind, zu erkennen, dass, nur weil etwas seit Jahren besteht, es nicht automatisch gut und richtig ist, dass eine Lösung für dieses Chaos gefunden werden muss und dass diese Lösung Begegnung heißt.Niemand erwartet in diesem Fall, dass in symbolischen Aktionen Mauern niedergerissen werden, Menschen sich weinend zur Versöhnung in die Arme fallen und Blumen verteilen, während darüber Friedenstauben fliegen. Wohl nicht.

 

Aber ein Weg entsteht eben erst, wenn man ihn geht. Und glücklicherweise gibt es dafür NGOs wie den Parents Circle, wo sich israelische und palästinensische Familien treffen, die allesamt Verluste durch den Konflikt erleiden mussten. Dann wird sich erst angeschrien, beschuldigt, beschimpft und geweint und irgendwann kommt vielleicht dieser Moment, wo allen Beteiligten klar wird, dass sie in derselben miserablen Situation stecken. Und dass es vielleicht ratsam wäre, gemeinsam dafür zu sorgen, dass ihre Kinder in Zukunft hoffentlich nicht mehr so leben müssen.

 

Ebenso lobenswert ist die Arbeit von Breaking the Silence, deren Intention darin besteht, mit ehemaligen IDF-Soldaten in die besetzten Gebiete zu fahren, um dort aus erster Hand zu hören und hoffentlich zu verstehen, was sich dort abgespielt hat.

 

Auf keiner der beiden Seiten ist mir jemand begegnet, der erklärt hätte: Also, das mit dem Krieg, das ist ne echt gute Sache. Ich bin voll dafür.“ Natürlich nicht. Stattdessen waren die Aussagen auf beiden Seiten die gleiche, sowohl auf Israeli-Seite als auch auf Palästinenser-Seite. Und zwar: „Das einzige, was ich will, ist in Frieden leben.“

 

Zumindest darin ist man sich einig. Und das ist doch schon mal was!

 

Hinschauen, wenn man am liebsten die Augen zumachen würde

Sicher war das keine angenehme Reise und ich gebe ehrlich zu, ich habe mich zwischenzeitlich mehr als einmal gefragt, warum ich mir das antue, anstatt mich einfach in Tel Aviv an den Strand zu legen.

 

Street Art in Tel Aviv

Street Art in Tel Aviv

Die Antwort ist so simpel wie logisch: Weil ich es nicht kann. Ich kann nicht in den Scheuklappen-Modus verfallen, denn Palästinenser und Israelis über die Jahre entwickelt haben. Ich kann nicht so tun, als wäre alles normal, wenn die Welt so sichtbar aus den Fugen geraten ist, dass es mich nachts im Schlaf verfolgt. Ich kann mich nicht einfach damit abfinden, dass ich um eine Ecke biegen und plötzlich zwischen israelischen Soldaten mit Tränengas und Palästinensern mit Steinen stehe. Ich weigere mich, zu glauben, dass es der richtige Weg ist, eine Gruppe von jungen Frauen mit Kopftuch gewaltsam von einem Platz zu entfernen und dabei rund 90 Polizisten mit Pferden und Hunden einzusetzen.

 

Und genau deswegen fahre ich hin, schaue ich an, stelle Fragen und versuche irgendwie nachzuvollziehen, was meinen Horizont maßlos übersteigt. Weil ich so vielleicht die Möglichkeit habe, einen Zugang zu Informationen zu liefern, die der Durchschnittseuropäer nicht hat und/oder nicht will. Aber genau das muss meiner Meinung nach sein: Hinschauen, um zu verstehen.

 

Und dann kann man versuchen, es irgendwie besser zu machen.

 

Und selbst, wenn das hier überhaupt gar nichts ändert, dann macht es immer noch für mich zumindest den Unterschied, dass ich es versucht habe.

 

3 comments

  • Wow, ich… bin sprachlos!
    Was für ein krasser Text. Du hast das Ganze so bildlich dargestellt, ich konnte mich hineinversetzen.
    Das muss ein wirklich mutiger Schritt von dir gewesen sein, ich glaube ich wäre mit den Nerven am Ende gewesen.
    Warst du komplett alleine unterwegs? Und hattest du Angst während deiner Reise?
    Das ist ein wirklich berührender Text, vielen Dank, dass du all die Strapazen auf dich genommen hast um darüber zu berichten!

    Michelle xx

  • Auch ich bin absolut sprachlos und begeistert von deinem Talent, mit Worten Bilder zu malen. Chapeau! Ich war ebenfalls 2017 in Israel, im April – in Tel Aviv, Nazareth und Jerusalem. Als ich dort war, war es zum Glück momentan eher ruhig und ich habe so nicht viel mitbekommen. Jetzt wünschte ich mir, ich wäre auch nach Hebron gefahren.

    Danke für den spannenden Text!
    LG Miriam

  • Larissa Fürstin

    Liebe Michelle,
    ich danke dir vielmals für deine lieben Worte und deine Komplimente 🙂
    Ich war dort tatsächlich alleine unterwegs. Angst hatte ich aber nur selten. Die Menschen dort waren wirklich sehr nett, offen und hilfsbereit, auf beiden Seiten. Nur miteinander sind sie halt nicht so nett.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert